Auf zu neuen -guten- Taten!

Natalia lenkte ihren marineblauen Prius in die Einfahrt von Ling & Coleman. Leise summend glitt der Hybridwagen in die Tiefgarage hinab, während die junge Anwältin sich mental auf ihren Tag vorbereitete.
Sie war gerade zwei Wochen im Urlaub gewesen und wusste nicht genau, was sie heute erwartete. Deshalb war sie auch mit dem Auto hier, obwohl sie bequem innerhalb weniger Minuten von ihrem Apartment zur Kanzlei mitten in Downtown laufen konnte. Sie hatte ihren Urlaub gut vorbereitet und alle Aufgaben minutiös erledigt und für alle Eventualitäten einer möglichen Vertretung Hinweise hinterlassen. Dennoch ging sie davon aus, dass Sam - ihr einziger Klient, der tatsächlich voll und ganz ihrer war- sie am ersten Tag nach dem Urlaub sehen wollte. Und bei ihm standen die Chancen nicht schlecht, dass er sie außerhalb der Kanzlei treffen wollte.

Sie parkte auf ihrem Platz, während sie gedankenverloren auf der Unterlippe kaute. Sam Ortega war wirklich der einzige Klient, der nur ihretwegen bei der Kanzlei war. Und auch wenn er weiterhin gutes Geld brachte, verblasste der Glanz des Erfolges mit seinem großen Fall allmählich. Natalia hatte sich daher sogar schon vor ihrer Erholungspause fest vorgenommen, nun aktiv auf die Suche nach neuen Klienten zu gehen oder sich bei anderen Fällen oder Projekten der Kanzlei voll rein zu hängen, um sich vor Susan zu beweisen. Zuletzt hatte die stets viel beschäftigte Chefin kaum noch Notiz von Natalia genommen. Ganz so wie in den ersten Jahren, als sie hier frisch nach der Uni angefangen hatte. Es wurde dringend Zeit ihren Status im Konkurrenzkampf der angestellten Anwälte zu verbessern.

Die Autotür fiel hinter ihr leise ins Schloss und ein Knopfdruck verschloss den Wagen mit einem Piepen. Gediegenen Schrittes ging sie auf den Aufzug zu und träumte dabei leicht vor sich hin. Am liebsten würde sie die schlechter gestellten Minderheiten vertreten. Latinos, die aus ihren hübschen und kulturell wertvollen bunten Häusern vertrieben wurden. Aber die wären natürlich keine zahlungskräftigen Klienten. Vielleicht wenn sie sich zu Nachbarschaftsvereinigungen zusammen täten?
Oder vielleicht sollte sie versuchen Sea-Shepherds zu vertreten? Die Verteidiger der Meere hatten es ihr angetan, wie sie selbstlos versuchten gegen alle widrigen Umstände die Tiere des Ozeans und damit auch den Menschen vor sich selbst zu schützen. Und die Organisation war groß genug, um als Klient interessant zu sein für eine renommierte Kanzlei.
Ihr Blick war noch bei rauen Seeleuten, denen noch die Gischt im Gesicht hing, als das "Bing" des Fahrstuhls sie in die Welt zurück holte.
Sie setzte ein erwartungsvolles Lächeln auf und betrat die Kanzlei. Es mochte vielleicht heute noch nicht für die Weltretter oder den kleinen Unterdrückten reichen, aber interessant fand sie ihre Arbeit eigentlich immer. Und irgendwann würde sie schon zu den Fällen kommen, wo sie mit voller Inbrunst und Überzeugung für Gerechtigkeit kämpfen konnte. Bis dahin tat sie halt einfach ihren Job.

Sie grüßte einige Anwaltsgehilfinnen und steuerte auf ihr Büro zu.

Die Sonne hatte es an diesem Morgen noch nicht geschafft, den Nebel von den Straßen zu vertreiben. Als sie aber aus dem Fahrstuhl trat, wurde sie von warmem Sonnenlicht begrüßt, dass überall durch die hohen Glasfenster und durch die vielen transparenten und semi-transparenten Bestandteile der Innenarchitektur hindurch filterte.

Zu Beginn ihrer Arbeit hier war Natalias Büro ein Schuhkarton gewesen - im übertragenen Sinn. Nach ihrem Erfolg im Ortega-Fall hatte Susan Ling persönlich die erste Kiste vom Schuhkarton in den Besenschrank (wieder im übertragenen Sinne) getragen, der ab dann ihr neues Büro war.

Code:

Natalia Capello, Anwältin

hieß es an der Tür. Ihr Schreibtisch war so, wie sie ihn zurück gelassen hatte, abgesehen von ein paar Memos und einer Fallakte.

Natalia ließ die Tür hinter sich einen Spalt weit offen. Das tat sie meistens, sofern sie nicht konzentriert arbeitete oder mit jemanden im Gespräch war. Manchmal fragte sie sich, ob das ein klaustrophobischer Tick war oder doch nur das Verlangen nach besserer Luftzirkulation.
Mit den beengten Räumen hatte sie sich eigentlich hier wie auch Zuhause arrangiert.

Sie stellte im Vorbeigehen ihre Aktentasche neben dem Schreibtisch ab und setzte sich. Dann wurde der Laptop auf dem Tisch positioniert und angeschaltet. Sie wollte, was immer an Nachrichten hier wartete gegebenenfalls gleich bearbeiten können.
Während das Betriebssystem lud, ging sie die Memos der Reihenfolge in der sie wohl abgelegt wurden durch und widmete sich in gleicher Reihenfolge auch der Akte.

Die meisten Memos waren nicht älter als ein Tag. Der Laden war top-organisiert, und wer Urlaub hatte, wurde nicht unnötig mit Papierkram bombardiert.

Ein Memo informierte über die Geburtstagsfeier von Mr. Coleman, dem zweiten Gründungsmitglied der Kanzlei, die in ein paar Tagen stattfinden sollte. Coleman lud traditionell die ganze Kanzlei ein, samt Paralegals und Sekretären. die Ausschweifungen waren berüchtigt.

Ein anderes Memo setzte sie in Kenntnis, dass sie ab jetzt in einem kleinen Team an einem Prozess über Patentstreitigkeiten mitarbeitete. Teamleiter war Mr Simmond, einer der Senior-Partner, der dafür bekannt war, andere die Arbeit machen zu lassen, während er nur gute Connections spielen ließ.

Ein letztes Memo unterrichtete sie, ab jetzt für den Pro-Bono-Fall von Kathryn Cartwright zuständig zu sein. Die Notiz war von Susan.

Code:

Liebe Natalia,
dieser Pro-Bono Fall ist überaus wichtig für diese Kanzlei. Ich will nicht schon wieder im Chronicler lesen, dass Ling & Coleman immer nur die großen Fische mit dem großen Geld unterstützen. Wir geben auch an die Gesellschaft zurück.
Herzliche Grüße,
Susan

Das mit der guten Publicity mochte zwar stimmen, trotzdem waren Pro-Bono-Fälle ungefähr so beliebt wie Fußpilz bei den Anwälten und Anwältinnen der Kanzlei. Sie brachten einfach keinen Ruhm, keine Ehre und vor allem... kein Geld für die Firma.

Natalia presste die Lippen zusammen als sie das Geburtstagsmemo las. Solche Veranstaltungen mochte sie nicht besonders. Obwohl sie sich immer zurückhielt und nie viel trank, gab es in den nächsten Tagen immer Leute, die pampig zu ihr waren.
Ganz davon abgesehen wusste sie nicht ob und was sie Coleman kaufen sollte. Ein Kärtchen kam ihr immer etwas lächerlich vor, zumal es aller Wahrscheinlichkeit nach ungelesen im Schredder landete. Aber echte Geschenke machte man sich hier auch nicht. Und Coleman hatte vermutlich genug Kohle um sich alles was er wollte doppelt und dreifach zu holen.
Natalia entschied sich, sich darüber nicht den Kopf zu zerbrechen und wenn möglich, sich nur kurz auf der Feier blicken zu lassen und dann mit irgendeiner Ausrede früh zu gehen.

Sie checkte schnell ihr E-Mail-Postfach ob es von Simmond schon etwas gab. Und ein paar Klicks weiter rief sie die Kontaktinformationen von Kathryn Cartwright auf.
Sie störte sich nicht an einem solchen Fall. Das tat der Seele gut. Ihr Gehalt bekam sie auch unabhängig davon, ob der Auftrag sich für die Kanzlei nun rechnete oder nicht. Und Ruhm und Ehre erkämpfte man sich durch die Art wie man eine Schlacht gewann, nicht nur danach worum es dabei ging. Sollten die Kollegen sie ruhig belächeln mit so etwas abgespeist zu werden. Wenn sie ihre Sache gut machte, konnte sie dennoch mit der Nase vorn herauskommen.

Kathryn Cartwright war schon als Klientin eingetragen, eine Mailadresse und eine Mobilnummer, sowie ihre Anschrift waren im Netzwerk der Kanzlei zu finden.

Die Akte auf dem Schreibtisch erzählte mehr über den Fall. Es ging um die Tochter Cartwrights, Melissa, die vor etwa drei Monaten gestorben war. Ihr Tod war als selbst verschuldeter Unfall - eine Überdosis Heroin - zu den Akten gelegt worden. Ihre Mutter will nun die Tau Epsilon Sorority, die Studentenverbindung verklagen, in der ihre Tochter Mitglied war, und die in den Augen Kathryns Schuld am Tod ihrer Tochter ist. Oder, zumindest will sie einzelne "Schwestern" vor Gericht zerren.

Natalia zog die Nase kraus. Der Fall machte auf Anhieb keinen vielversprechenden Eindruck. Die Umstände waren ohnehin schon hässlich. Und dann war doch noch die mehr als realistische Option, dass die Mutter mit dem Tod ihrer Tochter nicht umgehen konnte - was man ihr wohl kaum verübeln könnte - und daher versuchte, jemanden die Schuld geben zu können.

Aber Natalia würde natürlich ihren Job machen. Und so schickte sie eine kurze interne E-Mail in den Verteiler der Paralegals, jemand möchte doch bitte mal recherchieren, ob Tau Epsilon Sorority schon mal aktenkundig geworden war.

Dann griff sie zum Telefon und wählte die Nummer von Ms. Cartwright.

Es meldete sich eine Frauenstimme, die etwas kraftlos klang.

"Cartwright?"

"Guten Tag Frau Cartwright. Ich bin Natalia Capello von Ling&Coleman."

Sie wartete einen Atemzug damit ihr gegenüber die Information verarbeiten konnte. Schließlich saß sie bestimmt nicht den ganzen Tag vor dem Telefon und wartete auf ihren Anruf.

"Lassen Sie mich zunächst mein tiefst empfundenes Beileid zu Ihrem schrecklichen Verlust aussprechen. Ich habe nun die Aufgabe, Ihrer Tochter und Ihnen zu Gerechtigkeit zu verhelfen."

"Guten Tag!"

Sie klang direkt eine Spur weniger kraftlos.

"Ich danke Ihnen. Ich... freue mich wirklich sehr, dass Ihre Firma sich des Falls annimmt. Anderenfalls könnte ich mir einen Rechtsstreit niemals leisten."

Sie räusperte sich.

"Wie wird das weiter laufen? Wollen Sie, dass ich vorbei komme?"

"Also ein persönliches Treffen steht auf jeden Fall zu Beginn an. Unsere Kanzlei bietet sich dafür hervorragend an. Wenn Ihnen ein anderer Ort hingegen lieber ist, bin ich flexibel."

Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und hätte beinahe die Füße hochgelegt. Der Urlaub steckte noch zu sehr in den Knochen.

"Wichtig ist, dass Sie mir möglichst strukturiert alles erzählen, was vorgefallen ist. Und dass Sie alle Unterlagen, Hinweise oder Beweismittel zur Hand haben."

"Ja... ja, in Ordnung. Dann mache ich mich sofort auf den Weg", antwortete sie eifrig.

"Ich wohne etwas außerhalb von San Francisco. Ich brauche eine Stunde oder so, mit parken und so weiter."

"Gut. Machen Sie sich keine Hektik. Ich warte dann auf Sie."

Nachdem Sie das Telefonat beendet hatte, begann Natalia in Vorbereitung auf den Fall ein wenig zu recherchieren, wie es mit Drogenkonsum an der hiesigen Universität stand. Sie wusste noch aus ihrer Studienzeit, dass es unter den Jurastudenten einige gegeben hatte, die konzentrationsförderne und leistungssteigernde Dinge eingeworfen hatten. So schmählich das auch sein mochte, zwischen Ritalin und Heroin bestand doch ein großer Unterschied.

Eine kursorische Online-Recherche ergab ein paar Statistiken. Die Studenten namen natürlich Drogen, aber meist "softere" Sachen wie Gras, Speed, Extasy und andere Aufputsch- oder Partydrogen. Für Heroin fand sie heraus, dass es an der Uni nicht wesentlich öfter genommen wurde als in vergleichbaren mittelständischen Gesellschaftsschichten. Vermutlich erging es heroinsüchtigen Studenten ähnlich wie allen anderen, die den Drogen verfielen... wenn sie den Absprung nicht schafften oder eine reiche Familie hatten, lagen sie irgendwann in Tenderloin auf der Straße oder im Park rum und schliefen ihren Rausch aus - kurz, sie wurden an den gesellschaftlichen Rand katapultiert.

Das war es was sie erwartet hatte. Heroin war keine typische Studentendroge. Insofern war es ungewöhnlich, dass die junge Cartwright an Heroin gestorben war. Andererseits war die Gefahr falscher Dosierungen bei unerfahrenen Junkies oder Leuten, die zum ersten Mal probierten oder gar nicht genau wussten, was ihnen angeboten wurde, am höchsten.

Jetzt galt es erst einmal abzuwarten, was die Mutter denn für Argumente hatte, dass jemand anderes die Schuld tragen würde.
Natalia verließ ihr kleines Büro und kontrollierte, dass einer der Konferenzräume frei war, während sie zur Lobby ging um dort auf ihre Klientin zu warten.

Mehrere der kleinen Konferenzräume waren frei und standen ihr zur Verfügung.

In etwa 60 Minuten nach ihrem Telefonat öffnete sich die Fahrstuhltür mit einem leisen *bing* und eine Frau um die 50 trat daraus hervor. Ihre Haare waren gefärbt, aber graue Ansätze waren sichtbar. Der dünne Mantel und ihre Lederhandtasche wirkten etwas altbacken. Sie war stark geschminkt und lächelte unsicher, als sie in die Lobby der Kanzlei trat.

"Guten Tag", sprach sie Natalia vorsichtig an.

"Sind Sie Ms. Capello? Kathryn Cartwright."
So sich ihre Vermutung bestätigte, streckte sie die Hand zur Begrüßung aus.

Die junge Anwältin versuchte nicht zu sehr auf die Äußerlichkeiten direkt zu achten. In dieser Stadt war die äußere Erscheinung noch viel mehr ein reines Machwerk. Sie versuchte lieber die Persönlichkeiten hinter den Masken zu analysieren.

"Sehr angenehm", grüßte Natalia zurück und schüttelte die gebotene Hand.

"Folgen Sie mir doch bitte. Wir nehmen uns einen etwas ungestörteren Ort."

Damit führte sie ihre Klientin zu einem der kleineren Konferenzräume, die von den Senior-Partnern ohnehin kaum benutzt wurden.

"Sehr erfreut."

Nach einem kurzen Räuspern folgte sie Natalia - wenige Augenblicke später stellte sie ihre Tasche auf dem Tisch im Konferenzraum ab und schaute die junge Anwältin fragend an.

"Bitte. Setzen Sie sich", bot Natalia ihr an.

"Kann ich Ihnen einen Kaffee anbieten? Oder Tee, Cappuccino oder ein Wasser?"

Sie setzte sich nach der Aufforderung.

"Danke... ja, einen Tee, wenn es keine Umstände macht."

"Aber keineswegs", antwortete sie lächelnd, ging kurz aus dem.Konferenzraum und gab die Bestellung an die nächstbeste Person weiter, die in der Hierarchie unter ihr stand.

"Na dann", begann sie als sie wieder vor Frau Cartwright saß, "erzählen Die doch bitte zuerst einmal von Anfang an, was genau Ihrer Tochter widerfahren ist."

"Tja... wo fange ich an?"

Sie seufzte schwer.

"Wissen Sie, ich hatte eigentlich immer eine sehr gute Beziehung mit meiner Tochter. Melissa war gut in der Schule, hat Gymnastik gemacht und sich während der Schulzeit für den Schutz des Regenwaldes engagiert. Eine mustergültige Tochter, wenn Sie so wollen. Dann ist sie zum Studium ausgezogen - in diese schreckliche Verbindung."

Sie blickte gequält drein.

"Ich meine, man kennt das ja... diese Verbindungsmädchen haben keinen guten Ruf. Sie werben mit 'Schwesternschaft fürs Leben' und 'Unterstützung und Freundschaft', 'soziales Engagement' und solchen Dingen. Aber sie wissen sicher, dass es eigentlich um Party ohne Ende, Alkohol und Drogen geht. Ich hatte gehofft, dass meine Melissa das nach einiger Zeit merkt... ich hätte Sie mehr unterstützen müssen, aber ich hatte meine eigenen Probleme. Mein Ex-Mann und ich haben uns zu diesem Zeitpunkt entschieden, dass wir uns scheiden lassen."

Sie lächelte schwach und schüttelte den Kopf.

"Diese Verbindungen nehmen ja nicht jeden auf... mein Ex hat eine gute Position bei Kimpton Hotels. Und wir hatten einen Ehevertrag.... mir ist nicht viel geblieben. Ich will mich nicht beschweren, und es geht ja auch gar nicht um mich"

Sie hob beschwichtigend die Hände.

"Ich sage nur, dass das eine Realität war, mit der ich zu kämpfen hatte... plötzlich ohne irgendwas dazustehen. Deswegen habe ich vielleicht das Fenster verpasst, als Melissa noch in ihrer Anfangsphase in der Sorority war. Sie ist jedenfalls nicht ausgetreten... und ich habe gemerkt, wie die Distanz wuchs. Melissa fand es natürlich nicht gut, dass ihre Eltern sich scheiden lassen... sie hat sich dummerweise zu diesen Huren - Verzeihung - diesen Verbindungsmädchen und ihren Eskapaden geflüchtet. Und da wurde sie in den Strudel gezogen aus Alkohol, Drogen, Party und... naja, immerhin hatte sie einen Freund von außerhalb dieses Milieus. Aber wer weiß, wer sich im Rausch noch so alles an ihr vergriffen hat. Ich will mir gar nicht-"

Die Tür öffnete sich und eine der Paralegals, Monica, brachte eine große Tasse mit dampfendem Wasser und eine Teedose, in der eine Auswahl verschiedener Sorten bereit lag. Das ganze stellte sie mit einem freundlichen Lächeln und "Bitteschön" vor Cartwright ab.

"Danke."

Cartwright begann etwas fahrig, die Teedose zu durchstöbern, Monica verzog sich wieder.

Natalia bewahrte sich ihre professionelle Miene und schrieb sich ein paar Notizen mit.
Hinter ihrer Stirn fand sie es jedoch immer schwieriger, die Studentenverbindung als möglichen Schuldigen zu sehen. Es sprach ja doch vieles für die Eigenverantwortung der Tochter, die durch den Zerfall ihrer bisherigen Lebenswelt Realitätsflucht begehen wollte. Von der Verantwortung der Eltern mal ganz abgesehen.

"Ich verstehe", begann sie langsam während ihre Klientin ihre Gedanken beim Tee neu ordnen konnte.

"Bitte verstehen Sie, dass ich Ihnen nun auch unangenehme Fragen stellen muss. Sie haben das sicherlich mit der Polizei schon einmal erlebt. Ich will Sie damit nicht in Bedrängnis bringen. Oder die Rechtmäßigkeit Ihres Anliegens gar in Abrede stellen. Ich muss nur alles wissen, wenn ich Sie in dieser Sache bestmöglich unterstützen soll."

Sie blickte mitfühlend zu Ms. Cartwright.

"Und wenn wir erst einmal vor dem Richter stehen, dann müssen Sie sicherlich noch viel härtere Fragen durchstehen. Ich möchte, dass Sie dafür hier und jetzt bereits üben, Fassung zu bewahren."

Natalia ließ die Option, gar nicht bis zur Verhandlung zu kommen, auch nicht in ihrem Kopf aufkommen. So sehr es auch danach aussah, dass Melissa das traurige Opfer drogenverseuchter Weltflucht war. Natalias Aufgabe war es, der Mutter Gerechtigkeit zu verschaffen. Und irgendwer trug zumindest Teilschuld daran, indem er den Weg zu den Drogen eröffnete. Womöglich könnte auch jemand durch unterlassene Hilfeleistung oder Vertuschung belangt werden.

Sie nickte langsam.

"Natürlich... ich will vorbereitet sein."

Sie ließ einen Teebeutel ins heiße Wasser hinein.

"Melissa hatte Verteidigungsverletzungen. Blaue Flecke an den Armen und Blessuren im Rippenbereich... die Polizei war kurz davor, das ganze als Tötungsdelikt einzustufen. Die Mädchen haben geschlossen ausgesagt, dass sie die schon gehabt hätte, dass Melissa Streit mit ihrem Freund hatte... Marc, Marc Woodham. Ihn kannte sie vom Studium, nicht aus Verbindungskreisen."

Sie runzelte die Stirn.

"Ich kenne ihn nicht sehr gut, habe ihn nur drei, vier Mal beim Kaffee gesehen. Er ist so ein Neu-Hippie, wissen Sie? Mit Dreadlocks und diesen schlabberigen Klamotten. Tut keiner Fliege was zuleide. Tja, aber bei der Polizei hat er ausgesagt, dass er und Melissa sich tatsächlich kurz vorher gestritten haben - und dass er handgreiflich geworden wäre, und dass er glaubt, dass die Verletzungen daher kommen."

Jetzt wurde es interessanter. Nachdenklich ließ Natalia den Stift um die Finger kreisen.

"Wissen Sie, ob Marc auch mit Drogen in Kontakt kam? Womöglich durch ihre Tochter? Das könnte atypisch aggressives Verhalten zumindest erklären. Und ob er denn wegen Körperverletzung angeklagt wird oder schon wurde?"