Lebenslinien (Eliza)

Sie überquerten eine Grasfläche und gingen hinter einem kleinen Mäuerchen in Deckung, sodass man sie vom Vorlesungsgebäude aus nicht sehen konnte. Dina hockte neben ihr und flüsterte immer noch verschwörerisch.

"Und?"

"ehh...moment."

Eliza versuchte ihre Gedanken auf das hier und jetzt, auf Dina, zu konzentrieren. Während sie mit ihrer freien Hand in den anderen Ärmel hinein griff und den Stick heraus holte.

Dina schaute mit gerunzelter Stirn auf den Stick und schien nicht so richtig etwas damit anfangen zu können.

"Hä?", fragte sie verständnislos.

"Was denn?"

Gab Eliza zurück und schaute von Dina zu ihrer Hand.

"Was soll das denn sein?"

Sie schaute Eliza mit großen Augen an.

"War da nichts anderes?"

"Anderes was meinst du? Ich habe den Stick geholt. Hier!"

Eliza schob ihre Hand zu Dina rüber.

"Was anderes! Was anderes als das! Was wichtigeres!"

Sie nahm den Stick aus Elizas Hand und warf ihn achtlos in das kleine Gebüsch, das das Mäuerchen zierte.

"Komm mal runter! Was geht bei dir denn? Was Anderes! Es gab nur den Stick, der ist bestimmt wichtig! Der Laptop war von der Uni und immerhin habe ich den Stick mitgebracht! Nächstes mal kannst du ja gehen, wenn du was zu meckern hast!"

Wütend schaute Eliza zu ihr und suchte dann im Gebüsch, mit ihrer Hand tastend nach dem Stick.

"Echt mal, all der Aufwand und du machst hier so´ne scheiße...ich kann echt nicht noch mehr gestörte Weiber gebrauchen."

Die Schlampe mit den weißen Augen und ...ich selber reichen mir echt..bohhh Dreck verdammt...So ein verdammter Mist Tag!

Sie tastete nach dem Stick, als ihr plötzlich etwas in die Hand stach. Greller Schmerz durchzuckte sie und reflexartig musste sie ihre Hand aus dem Gebüsch ziehen. Drei dünne Blutrinnsaale flossen aus einer kleinen Stichwunde in ihrem Handrücken. Das Gebüsch raschelte leise... erst jetzt sah sie, dass es voller Dornen war. Kleine Ranken wuchsen unglaublich schnell aus der Hecke hervor und krochen über das Mäuerchen, um dann scharfe Dornen sprießen zu lassen.

Dina war nicht mehr da. Stattdessen stand die irre Frau mit den weißen Augen, die voller Zorn waren, jetzt über ihr.

"Du Dieb! Wo ist mein Webschiffchen?! Es gehört dir nicht! Gib es mir ZURÜCK!"
Eine Hand mit Dornen statt Fingernägeln griff nach Elizas Gesicht.

Die Lügnerin, gedungen von Despoten, erinnerte sie sich unwillkürlich an einen Vers aus dem Gedicht.

Eliza erschrak.

"Was willst du von mir?"

Brüllte sie ihr entgegen und wich der Hand, der Weberin aus.

"Verschwinde! Hör auf mich zu verfolgen!"

Nein, nicht Sie! Scheiße das Schiffchen, aber es war in der Tasche! Nicht weg wie alles sonst was ich vorher gesehen habe...Egal wenn ich dieses Gedicht richtig verstehe dann könnte sie gemeint sein und dieses Weib verheißt dann erst recht nichts gutes!...All das... ist Real!

Während Eliza sehr schnelle schritte, seitlich nach hinten machte, als würde sie einem Schlag ausweichen, fielen ihr zusätzlich zu ihrem Gedankenschwall, Fleetwoods Worte wieder ein: "folge einfach den Zeichen, wenn sie auftauchen, und lasse dich auf das ein, was du sehen, hören und erleben kannst."

Ich packe das! Soll diese Schlampe nur was versuchen.

"Gib mir mein Schiffchen, und ich gehe. Dann kannst du weitermachen wie bisher... blühen oder welken, mir ist es einerlei!", zischte sie und ihre weißen Augen glühten auf.

Rechts neben Eliza wuchs die kleine Dornenhecke weiter in die Höhe, war nun beinahe mannshoch. Auch an anderen Ecken des Campus wuchs dichtes Buschwerk in irrsinniger Geschwindigkeit heran.

Die Weberin machte einen Satz auf Eliza zu und dornige Finger griffen nach ihr.

Ohne weiteres Zögern sprang sie der Weberin entgegen und schlug mithilfe des Webschiffchens, welches sie aus ihrem Ärmel in ihre Hand gleiten ließ, auf ihren Hals ein. Wenn dieses Scheusal menschliche Schmerzen erleiden konnte, dann konnte sie sich auch wehren. Wenn nicht dann konnte sie immer noch versuchen fortzulaufen zwischen all den Dornenhecken.

Das Schiffchen traf auf den Hals der Frau. Es knackte hässlich, als sich Risse in ihrer Haut bildeten, die sich rasch über ihr Gesicht ausbreiteten. Sie sah aus wie eine Reflexion in einem geborstenen Spiegel.

"AAAARESSSSHHRRRGGGrsamrr!"
Sie taumelte zurück und presste ihre Hand auf den Hals, an die Stelle, wo das Webschiffchen sie getroffen hatte. Silbriges Licht drang von innen durch die Risse in ihrer Haut.

In ihrer Hand sah Eliza jetzt kein Webschiffchen mehr, sondern einen langen, filigranen Pinsel, der aus dem gleichen silbrigen Material bestand, und ebenfalls mit feinen Linien übersät war, die so eine Art Runenschrift bildeten.

Ich zeichne das Schicksal selbst, konnte Eliza lesen, obwohl sie die Schrift noch nie vorher gesehen hatte.

Sie hielt den Pinsel fester in der Hand und schaute dann von ihm auf, um dabei zuzusehen wie das silberne Licht aus der Weberin drang.

"Und wie ich mein Schicksal zeichnen kann! Hast du das hier etwa so gewebt, ich denke eher nicht...Ha!"

Das Licht wurde stärker, dann blendend, und als es erlosch, zerbröckelte die Weberin und fiel als Scherbenhaufen in sich zusammen. Indessen waren die Hecken zu einem reinsten Labyrinth um sie herum gewachsen.

Dina kam um eine Ecke. War das Dina? Das Gesicht stimmte überein, aber sie hatte blaue Federn anstatt von Haaren, und ein dazu passendes Kleid, das ebenfalls aus Federn bestand.

"Du hast es geschafft!" rief sie fröhlich.

"Du hast den Pinsel gefunden. Jetzt brauchst du nur noch einen großen Bogen Papier, dann kannst du zeichnen!"

"Warum sieht du aus wie Dina? Was willst du und was meinst du mit geschafft und bogen Papier? Was soll das alles?"

Eliza starte die blau gefiederte Dina an.

"Gehörst du zu ihr?"

Sie zeigte auf den Scherben Haufen.

"Ich werde jetzt gehen, wirst du mir auch folgen?"

Sie folgte ihrem Blick auf den Scherbenhaufen.

"Zur Weberin? Nein. Ich bin die Liederreiche. Du siehst mich so, wie du es willst. Du hast den Garten betreten. Wohin willst du gehen? Zurück?"

Sie deutete auf die nunmehr dichte Hecke. Ein großer Wandspiegel schob sich beinahe lautlos aus dem Dornengestrüpp hervor. Er war mit einem schnörkeligen Goldrahmen verziert. Eliza sah sich darin gespiegelt, wie sie auf dem Flyer der Weberin ausgesehen hatte. Mit einem Business-Kostümchen, manikürten Fingernägeln und dezentem Make-Up.

"Da kommst du zurück."
Die Liederreiche klang etwas bedauernd.

"Aber das ist nicht der richtige Spiegel. Hörst du nicht das Flüstern? Siehst du nicht die Pfade durch das Labyrinth? Am Ende steht ein anderer Spiegel. Ein Spiegel ohne Spiegelbild, wo du selbst entscheiden kannst, wie du aussehen willst."

Nach dem Flüstern hörend, schwieg Eliza und sah sich auch nach dem Pfad um. Dann deutete sie ebenfalls auf den Gold geschnörkelten Spiegel.

"Da gehe ich nicht durch! Wenn du mitkommst dann lass uns durch das Labyrinth zum Spiegel gehen, ich will ihn sehen."

"Du wirst den Spiegel finden, wenn es das ist, was du willst. Ich komme nicht mit."

Zwei große, blaugefiederte Flügel schossen unvermittelt hinter ihrem Rücken hervor. Mit zwei kräftigen Schwingenschlägen war sie in der Luft und segelte über die Hecken davon.

Pfade... vielleicht meinte sie die Wege, die die hohen Hecken bildeten. Aber irgendwie wirkten diese nicht einladend auf Eliza. Als sie angestrengt horchte, hörte sie tatsächlich ein Flüstern. Es war leise aber beständig, man konnte keine Worte verstehen, und es kam von hinter der Hecke, die dem Spiegel mit Elizas Business-Spiegelung gegenüber lag.

Mit einem letzten Blick nach oben, den blauen Flügeln hinterher schauend, ging sie zielstrebig los genau in die Richtung des Flüstern´s und suchte den weg hinter diesen Heckenbereich.

Sie ging links an der Hecke entlang und das Flüstern wurde leiser. Ging sie nach rechts, war es das gleiche. Sie umrundete sogar einmal den Block des Labyrinths - es gab keinen Weg der zu dem Flüstern führte - jedenfalls nicht, wenn man sich nicht durch eine Hecke mit überdimensionierten Dornen zwängen wollte, von denen manche sogar aussahen, als seien sie aus spitzen Glassplittern.

Nah an der Hecke stehen bleibend, drückte sie ihre Hand mit dem feinen Silberpinsel in die Hecke hinein.

Für einen Moment leistete die Hecke noch Widerstand, dann aber schlängelten sich die Dornenranken davon und gaben einen Durchgang frei, hinter dem der Anfang von einem Pfad - ja, das war wirklich ein Pfad, der den Namen verdient hatte - zum Vorschein kam. Einige Meter vor ihr war wieder dichtes Gestrüpp - doch so wie sie darauf zuging, wich es zurück. Hier konnte sie gehen, wohin sie wollte.

Lächelnd ging sie den Pfad entlang, schaute sich die Dornenranken und das Gestrüpp zu den Seiten des Pfades an und versuchte erneut die flüsternden Stimmen zu hören.

Sie konnte das Flüstern ausmachen, immer ein bisschen von ihr entfernt, nicht genau greifbar. Links und rechts neben ihr tauchten Spiegel in den verschiedensten Größen und Formen auf, getragen von den Ranken der Dornenbüsche. Sie sah sich selbst in den Spiegeln - als kleines Mädchen, als Teenager, so wie sie jetzt war, wie sie gestern war. Sogar ein Baby mit ihren Augen schaute ihr einmal entgegen. Aber da war noch so viel mehr. In manchen Spiegelungen war sie älter als jetzt, und sah unterschiedlich aus. Mal war sie abgerissen, mal schick, mal abgehärmt, mal gesund. Ein Spiegelbild lächelte sie an, einem anderen liefen Tränen über die Wangen. Einmal sah sie sogar eine sehr alte Frau mit krummem Rücken und tiefen Lachfalten.