Lebenslinien (Eliza)

Sie nahm sich die Zeit um all die Spiegelbilder -ihre Spiegelbilder zu betrachten. Manchmal stand sie lange einfach nur da, vor einem ihrer vergangenen oder zukünftigen Spiegelbilder und schaute. Ab und zu lächelte sie und manchmal musste sie weinen. Sie ging an all diesen unterschiedlichen Spiegeln mit den unterschiedlichsten Gefühlen vorbei. Aber hier war noch nicht der Spiegel den sie suchte. Also riss sie sich los und ging weiter.

Dem Flüstern weiter folgend erreichte sie schließlich das Ende des Dornenlabyrinths. Als sich die letzten Ranken vor ihr verzogen, stand sie am Rande eines kleinen Tals, in dem ein Hain voller verdrehter Bäume stand, deren obere Ausläufer und Äste langsam von Holz übergingen in eine kristalline Substanz. In der Mitte des Tals war ein Berg, auf dem ein monumentaler Baum in die Höhe ragte, der unten noch hölzern-knorrig und mit dicken Wurzeln im Berg verankert startete; jedoch nach oben hin mit unzähligen, bläulichen Kristallen überwuchert wurde und schließlich ganz und gar von einer gläsern-kristallinen Rinde überzogen war.

Weit, weit oben spannte sich ein gewaltiges Dach aus den Ästen und Zweigen aus Kristall und den gläsernen Blättern des Baumes auf, das solche ungeheuren Ausmaße annahm, das es beinahe den ganzen violetten Himmel einnahm, und Eliza beinahe rückwärts umgefallen wäre, weil sie den Kopf so weit in den Nacken legte, um den unzähligen Verästelungen, Gabelungen und Wegen zu folgen, die der Baum mit seinem Geäst in den Himmel zeichnete.

Mit purem Erstaunen und einer unbändigen Neugierde wie alles aus der Nähe aussehen würde, machte sie sich auf den weg hinunter in das Tal. Auf ihrem weg ließ sie alles auf sich wirken, dass würde sie nie wieder vergessen.

Sie betrat den Hain und wanderte eine Weile durch diesen. Dann erreichte sie eine Lichtung, auf deren Mitte zwei Zweierreihen an Stühlen stand, in einer Formation wie in einem Bus oder einer Straßenbahn, bloß dass die Stühle aus Glas und lediglich von Schaufensterpuppen besetzt waren, die alle in irgendwie zufällige, nicht zueinander passende Kleidungsstücke gesteckt worden waren. Am Kopf der Reihe stand jemand. War das Jack? Das Gesicht stimmte, aber er hatte einen goldenen Helm auf, goldene Lippen und um seinen Hals wand sich ein goldenes Band, das vorne ein Schlüsselloch hatte, etwa in Höhe des Kehlkopfs. Ansonsten trug er schlichte, graue Kleidung.

Er sprach zu den versammelten Schaufensterpuppen, allerdings konnte Eliza kein Wort verstehen. Es war nur so ein metallisches Kauderwelsch, eine leiernde Assonanz.

Sie ging die Stuhlreihen entlang auf den falschen Jack zu. Schaute sich die Fensterpuppen genau von Näherem an, betastete die Stühle. Vor dem falschem Jack stehend schaute sie hoch in sein Gesicht.

Das ist Jack und auch wieder nicht. Das muss sein wie mit dieser blau gefiederten Dina. Ich sehe ihn so, genau wie sie, weil...was hatte sie gesagt... ich sie so sehen möchte.Ich vertraue ihnen deshalb!  Hat dieser Ort dann Zugriff auf meine Gedanken? Ja, natürlich, denn die Spiegel haben meine Erinnerungen gezeigt, aber dann die Bilder von mir die kommen könnten? ...Puhh.... Hilft der Jack hier, mir dann auch weiter? Dann brauch ich den Schlüssel für dieses Band.

Eliza ließ ihren Blick über den Platz schweifen, irgendwo musste hier sicher ein Schlüssel zu finden sein.

Sie konnte nirgendwo einen Schlüssel entdecken, dafür schwoll das Flüstern etwas an, und zwischen den unverständlichen Silben und Lauten hörte sie eine einzelne, kohärente Botschaft.

Willst du den Schlüssel finden, suche die Antwort im zufälligen Muster

Nochmals schaute sie über den Platz. Und suchte mit den Augen alles nach Mustern ab.

Zufällige Muster. Die Stimmen könnten die Puppen meinen, mit deren Klamotten. Schauen kann ich ja mal.

Sie ging zurück zu den Schaufensterpuppen und fing an eine nach der anderen zu durchsuchen.

Die ersten Durchsuchungen ergaben nichts besonderes. Bei der siebten Schaufensterpuppe, die sie durchsuchte, hörte sie ein leises Klimpern. In der Hosentasche der Jeans, die die Figur unter einem Sommerkleid trug, fand sie die Urheber des Geräuschs... eine ganze Hand voll kleiner Silbermünzen.

Sie steckte die Münzen zurück.

Irgendwo müssen die Schlüssel doch hier zu finden sein. Einfach weiter. Wenn ich sie hier nicht finde fällt mir schon noch was ein!

Schnell suchte Eliza weiter.

Bei den restlichen Schaufensterpuppen fand sich nichts. Der goldbehelmte Jack bedachte sie weiter mit kakophonen Tönen. Er klang aufgeregt.

Eliza ging zurück zu der Schaufensterpuppe mit den Münzen in der Jeans und holte sie heraus. Zurück bei dem falschem Jack schaute sie sich die Münzen an, nahm ihren Silberpinsel und strich mit dem Pinsel über die Münzen in ihrer Hand, als würde sie sie um malen wollen.

Silbrig-weißes Flackern sprang zwischen der Pinselspitze und den Münzen hin und her. Sie strich von Münze zu Münze, dummerweise ließ sie dabei eine fallen, und als sie reflexartig danach greifen wollte, fielen auch alle anderen Münzen plinkernd zu Boden. Sie wollte sie gerade aufheben, als sie bemerkte, dass die gefallenen Silberstücke so eine Art V bildeten, das mit der Spitze ziemlich genau auf Jacks linken Fuß zeigte.

Den Münzen mit ihrem Blick folgend, hockte sich Eliza hin und schob kräftig den Fuß des falschen Jacks nach hinten.

Der goldene Jack schrammelte irgendwas, was entfernt wie eine Beschwerde klang, als sie sein Fußgelenk packte. Dabei spürte sie etwas Hartes an seinem Knöchel. Als sie nachsah, fand sie einen goldenen Schlüssel, der mit einer kleinen Kette am Fußgelenk befestigt war. Die Kette löste sich allerdings umgehend unter ihrer Berührung und sie konnte den Schlüssel lösen.

Sofort nahm sie den Schlüssel an sich, stand auf und steckte vorsichtig aber zielgerichtet den Schlüssel in das Schlüsselloch des goldenen Halsbands, das der falsche Jack trug.

Der Schlüssel passte, drehte sich im Schloss und es klickte. Das goldene Band teilte sich vor dem Kehlkopf und klappte auf.

Unter dem Band war ein zweiter Mund. Während der erste weiterhin surrendes, unverständliches Gemurmel von sich gab, kaute der neue Mund, schmatzte probehalber und legte dann los.

"Ah, danke, viel besser. Endlich versteht mich wieder jemand."

"Ja..ähm gern geschehen. Das mit dem goldenem Halsband war ja auch nicht so toll was? Warum hast du das Ding überhaupt getragen?"

"Nicht freiwillig habe ich das getragen, nein nein", erzählte der zweite Mund. der erste blieb vorerst geschlossen.

"Vor allem ironisch, dass der Weg, meine Stimme zu befreien, um meinen eigenen Fuß hing. Wer denkt sich sowas aus?"

"Keine Ahnung wer sich so etwas ausdenkt, du, ich, dieser Ort. Hauptsache ist doch du kannst jetzt sprechen und wenn wir schon dabei sind, könntest du mir sicher auch helfen, ich suche den Spiegel."

Sie schaute ihm fest in die Augen, auch wenn sie zweite Mund doch immer wieder ablenkte.

"Ah, den Spiegel. Den leeren Spiegel, den gehüteten Schatz. Das ist nicht einfach."

Jack schaute demonstrativ zu den Schaufensterpuppen.

"Ich versuche diese Nichtsnutze schon seit Ewigkeiten zu überzeugen, loszumarschieren und die Greensheet-Festung zu stürmen. Aber bislang konnten sie mich nicht hören."

"Ja den leeren Spiegel...gehüteter Schatz? Nicht einfach? Ich mach das schon, kannst du mir den weg zeigen?"

Eliza schaute ebenfalls zu den Schaufensterpuppen hin.

"Mhhh vielleicht fällt mir etwas ein, womit ich helfen kann."

Sie ging zu der Schaufensterpuppe die ihr am nächsten war und strich mit ihrem Pinsel über das Gesicht und die Ohren der Puppe.

Kleine silbrige Schlieren umspielten die Ohren der Schaufensterpuppen. Nach und nach ging Eliza die Reihen durch. Dann begann Jack mit seinem zweiten Mund zu sprechen.

"Kommt meine Freunde! Kommt, hört mich endlich an! Der Feind... die böse Macht von Greensheet liegt auf diesem Berg! Sie haben gelogen, sie haben betrogen, sie haben und alle in die Irre geführt. Aber das schlimmste ist: Sie haben ein Versprechen gebrochen, dass sie uns gegeben haben! Die Rache muss endlich unser sein! Kommt ihr Vielen, stürmen wir den Gipfel und lassen die Eidbrecher bezahlen!"

Ein plötzlicher Ruck ging durch die Schaufensterpuppen. Arme und Beine aus Plastik schoben sich aus den Sitzreihen, und die Puppen standen auf. In Reih und Glied marschierten sie los, in Richtung des großen Baumes.

Eliza lief schnell zu dem falschen Jack zurück der seine Ansprache gerade beendet hatte.

"Was genau tun wir jetzt? Kämpfen? Gegen wen genau? Bringst du mich jetzt zum Spiegel?"

"Gegen die böse Macht von Greensheet, auf in den Kampf", rief Jack und wurde von den marschierenden Puppen mitgetragen und schloss sich dem Marsch an, der direkt auf den großen Baum zuhielt.

"Der Spiegel ist... irgendwo dahinter", rief Jack aus der Menge der Puppen.

Eliza lief in Gedanken den Puppen und dem falschem Jack hinterher.

Ok..das lief anders als ich dachte, aber ich laufe jetzt erst mal zu dem Baum und dann sehe ich weiter.