Neue Namen

Es war abgeschlossen, aber er hörte, wie ein Fenster über ihm geöffnet wurde. Kivutar schaute herunter.

"Nehmen Sie den Seiteneingang."

Wenig später war er oben in dem Büro, das er durch Sh'aocs Augen schon einmal ausgespäht hatte. Kivutar betätigte sich gerade an der Kaffeemaschine.

"Kaffee?"

"Gerne. Schwarz." antwortete Phobos Kivutar, als er den Raum betrat und blieb in der Mitte des Raumes, nahe des Schreibtisches stehen.

"Setzen Sie sich ruhig."

Sie deutete auf einen der Stühle, die am Tisch in der Küchenecke des Büros standen.

"Ich muss nur immer mal wieder nachsehen, ob sich auch niemand unten herumtreibt. Oder... kann das vielleicht Ihr Goetia erledigen? Wie war noch gleich der Name?"

Phobos setzte sich auf einen Stuhl und sah sie an.

"Das wechselt wöchentlich." entgegnete er. "Co'Sha, Sac'oh... Sh'aoc mag sie aber am Liebsten."

"Ich frage ihn mal." Er ging zur Tür des Büros und öffnet diese - den Goetia hatte er auf Höhe der Bar verloren. "Komm doch mal, Sh'aoc."

Der Goetia ließ sich Zeit damit, sich die Treppe hochzuschieben.

"Wie lief das Treffen mit dem Hierarchen?", fragte Kivutar indessen, und goss zwei Tassen Kaffee ein.

"Welches der beiden?" fragte er Kivutar. "Zur Entspannung habe ich heute im Park Schach gespielt - mit ihm, wie ich etwas später herausfinden musste."

Er schüttelte den Kopf.

"Haben Sie ihn auf die Idee gebracht, den Vortrag zu meinem Tribut zu machen?"

"Oh. Vielleicht ist er doch aufmerksamer bei der Sache, als ich gedacht hatte."

Sie zog die Augenbrauen hoch.
"Nein... was für ein Vortrag?"

"Er möchte, dass ich einen öffentlichen Vortrag über mein Erwachen und meine Zeit bei Lovecraft halte - im Sinne des Konsiliums." erwiderte Phobos.

"Ich hielt es anfangs für eine List, damit ich im Laufe des Vortrags abstreite, den Fund getätigt zu haben. Darum ging es ihm scheinbar nicht, denn die Begriffsänderung von 'Erlebnisse als junger Magier', zu "Erlebnisse mit dem Magier Lovecraft' nahm er hin."

Kivutar dachte kurz nach.

"Klingt, als könnte da Input von der Silbernen Leiter im Spiel sein. Leider bist du damit zu einem politischen Instrument geworden - um dem Freien Konzil Sand ins Getriebe zu streuen."
Sie stellte eine Kaffeetasse vor Phobos ab.

"Ich weiß. Aber er ließ mir nicht gerade eine Wahl." Er nahm die Kaffetasse in die Hand.

"Außerdem wurde ich gebeten, das Gespräch vertraulich zu behandeln."

"Das Risiko für dich ist auch nicht besonders hoch dabei. Du bist der Neuling, der instrumentalisiert wird - niemand wird dir die Schuld an irgendwas geben."

Sha'oc war angekommen und hatte sich murrend runter zum Wachdienst schicken lassen.

"Der Hierarch hat betont, dass das Gespräch vertraulich war?"

Phobos nickte nur zur Antwort.

"Was denkst du über den Ansatz, unabhängig davon, dass du involviert bist?"
Fragte sie und nippte an ihrem Kaffee.

"Dass die Geschichte mit Lovecraft vom Hierarchen nochmal aufgebauscht wird, um das Freie Konzil dumm dastehen zu lassen und wahrscheinlich auch innerhalb des Ordens für Wirbel zu sorgen, der die Gesamtposition desselben schwächt?"

"Es ist raffiniert, keine Frage." gab er zu. "Aber wenn selbst ich das mit meiner geringen Erfahrung durchschauen kann, vielleicht zu offensichtlich."

Auch er nippte an seiner Tasse.

"Außerdem ist das Pentakel mit Terror konfrontiert. Ist der Sinn Terrors nicht, Gesellschaften zu spalten? Sollten wir nicht näher aneinander rücken, in solchen Zeiten?"

"Sicherlich. Ich nehme an, der Plan der Silbernen Leiter ist es, das Freie Konzil langfristig dazu zu zwingen, näher an das Konsilium zu rücken. Und du wirst nicht der einzige sein, der diesen Plan durchschaut. Aber meiner Erfahrung nach tut das den Diskussionen keinen Abbruch. Der Schaden wird angerichtet, auch wenn einige die Idee verstehen."

Sie schwenkte ihre Tasse ein wenig.

"Es ist jedenfalls ein moralisch fragwürdiger Plan. Was mich zu unserem Orden bringt. Ich habe es in der Deutlichkeit noch nicht gesagt, aber die Hüter des Schleiers handeln in Erfüllung ihrer Pflichten hin und wieder moralisch äußerst fragwürdig. Lügen und Täuschungen gehören zu unserem Alltag. In manchen Fällen morden wir. Das ist eine Realität, die ich nicht länger vor dir verheimlichen werde. Und das ist auch der Grund, warum wir im Pentakel verhasst und als notwendiges Übel geduldet sind."

"Also ist es wahr." entgegnete er gefasst. Lovecraft hatte ihm Geschichten über das Vorgehen der Hüter erzählt.

"Dann bin ich froh, meinen hypokratischen Eid noch nicht abgelegt zu haben." scherzte er geschmacklos.

Sie nickte.

"Unsere Methoden sind - wie soll ich sagen... dreckig. Ein Stück weit ist das Pragmatismus. Wir sind der kleinste der Orden. Wir können uns hehre Ideale wie Ehre oder Ehrlichkeit schlichtweg nicht leisten. Der Feind kämpft mit harten Bandagen, und wir halten bewusst mit. Deswegen handeln wir verdeckt, setzen Spionage und Täuschung, Erpressung und Attentate ein."

Ihr Blick forschte in Phobos' Gesicht nach Reaktionen auf diese Offenbarung.

"Aber es ist nicht nur Pragmatismus. Unsere Methoden sind auch in der Philosophie des Ordens, den Exoterischen Lehren, verankert. Dazu muss man sich die Summe aller Erwachten vor Augen führen - das Diamantrad - und wie unsere Arbeit es den anderen Orden möglich macht, rein zu bleiben und weise zu handeln. Ein Thearch muss, wenn alles richtig läuft, niemals einen anderen Erwachten töten, und seine Prinzipien verraten. Ein Mystagoge kann in Frieden forschen, ohne Sorge, von Scelesti angegriffen zu werden, die seinen Orden infiltriert haben. Kein Erwachter muss seine Ideale verraten oder Schuld auf sich laden - wir übernehmen diese Schuld. Unsere Sünden spenden den Erwachten Weisheit. Man kann es sich ein bisschen so vorstellen, dass wir alles schlechte Karma auf uns selbst transferieren, damit die anderen Magier davon verschont bleiben, und das Diamantrad in Summe besser und besser wird. Es ist eines der größten Opfer, die man bringen kann."

Für Phobos Verhältnisse sprach sein Gesicht Bände. Er hörte aufmerksam zu, blieb ernst und nichts an dem, was sie ihm sagte, schien ihm Vergnügen zu bereiten. Dennoch war da so etwas wie Anerkennung in seinem Blick.

Als sie geendet hatte, sprach er nur ein Wort.

"Ja."

Sie atmete durch.

"Gut, dass du verstehst. Es ist sehr wichtig, darüber intensiv nachzudenken. Deswegen werde ich dir heute auch keine weiteren philosophischen Aspekte der exoterischen Lehren erläutern. Ich denke, es ist sinnvoll, Theorie und Praxis zu verbinden. Unsere Rolle als Geheimpolizei, wenn man so will, geht auf die Visus Draconis zurück - die Vorfahren unseres Ordens in der Zeit Davor. Unsere magischen Praktiken beziehen Kraft aus dem Symbolismus des Versteckten und Verborgenen. Masken, Schleier und Umhänge können uns als Yantras dienen, sowohl um zu verhüllen als auch um zu enthüllen."
Sie hielt kurz inne.
"Das wäre eine erste Aufgabe für dich. Finde ein Werkzeug, das dir persönlich zusagt, und das in diese symbolische Kategorie passt."

Wieder schwieg Phobos, bis Kivutar endete.

"Als Hausaufgabe nehme ich an." stellte er fest.

"Ganz genau. Und ich habe noch mehr Hausaufgaben. Überwachung ist unser täglich Brot, sowohl Schläfer als auch Erwachte. Du solltest überlegen, welche Techniken und Methoden dir in diesem Bereich zur Verfügung stehen - sowohl arkane als auch mondäne Ansätze."

Sie zog ein Buch aus ihrer Umhängetasche, das den Titel 'Spycraft' trug und schob es über den Tisch.

"Besonders in den nichtmagischen Techniken solltest du dich weiterbilden. Die Möglichkeiten sind enorm und gerade Erwachte sind oft nachlässig - sie denken, alles was nicht magisch ist, verdient keine Aufmerksamkeit."

Phobos nahm das Buch entgegen und blätterte durch die Seiten.

"Mir ist bereits aufgefallen, wie nachlässig andere Erwachte an Telefonen und in der Öffentlichkeit sind." stimmte er zu und sah sich um. Wo blieb eigentlich Sh'aoc?

"In der Tat ist etwas Disziplin in diesen Bereichen ratsam. Andererseits-"
Sie lächelte dünn.
"So macht es unsere Arbeit einfacher."

Das Buch hatte folgende Kapitelübersicht.

1. Beobachtung und Rekrutierung
2. Tarnung, Verkleidung und Cover-Identitäten
3. Verbergen von Gegenständen
4. Heimliche Observation
5. Verdeckte Kommunikation
6. Spionage und das Informationszeitalter

Spoiler:

Phobos öffnete das Buch bei dem Kapitel 'heimliche Observation'.

"Ja, natürlich." erwiderte er. "Mir sind übrigens ein paar Unstimmigkeiten an Amelius Verhalten aufgefallen." brachte er dann ein.

Das Kapitel begann mit allgemeinen Erklärungen und der Differenzierung von festen Horchposten und mobiler Überwachung. Feste Horchposten boten den Vorteil, dass Technologie dort installiert werden konnte - etwa Mikrophone, Kameras und Anzapfungen der Telefonkabel - und diese direkt mit dem Strom des Ortes, wenn vorhanden, gespeist werden konnten. Außerdem war diese fest installierte Technologie oft verlässlicher als mobile Wanzen und dergleichen.

Bei mobiler Überwachung wurde noch in Nah- und Fernüberwachung unterschieden. Bei Nahüberwachung folgten Agenten, meist ausgestattet mit versteckten Kameras in Kleidung oder Koffern, dem Ziel direkt. Fernüberwachung dagegen nutze Peilsender, die allerdings irgendwie an das Ziel angebracht werden mussten. Eine andere Möglichkeit waren Tracking-Softwares, die eine Verfolgung von Handys und Laptops ermöglichten.


"Inwiefern?", hakte Kivutar nach und gönnte sich einen Schluck Kaffee.