Inneres Feuer, äußere Umwege

Sie zog an ihrer Zigarette und ließ eine blaue Wolke über ihnen aufsteigen. Den Blick hatte sie in den Himmel gerichtet.

"Lass mich dir die Geschichte vom traurigen Stein erzählen", begann sie, ohne ihn anzusehen.

"Der traurige Stein lebte... nein, er existierte auf einer steilen Küste am Meer. Er lag an einem steilen Hang und wäre eigentlich denselben hinabgerollt und ins Meer gefallen, wo ungewisse Gezeiten ihn an ungewisse Orte getragen hätten. Aber andere Steine lagen an seinem Fuß und um ihn herum und hielten ihn deswegen fest wo er war."
Sie zog an ihrer Zigarette.

"Eines Tages kam ein verrückter anderer Brocken vorbei, der der Meinung war, alle Steine müssten ins Meer fallen weil... das Meer dann steigt und alle Steine an Land auch unter sich bedeckt. Also verdrängte der Brocken die kleineren Steine, die bislang Halt gegeben hatten. Und so konnte der traurige Stein sich irgendwann nicht mehr halten und rollte ins Meer. Und als er die Klippen hinabstürzte, erkannte er die Wahrheit über das Fallen. Jetzt ist er aber trotzdem im Meer und wird von ungewissen Gezeiten an ungewisse Orte getragen."

Eine Geschichte mit offener Moral und offenen Fragen. Wie spannend.

Galen nickte zustimmend.

"Alle Dinge fallen." erwiderte der Moros. "Ganz gleich was passiert, solange die Dinge in die Tiefe gezogen werden, werden sie vergehen."

"Aber als der Stein oben am Hang noch verkeilt war, ist er nicht gefallen...", bemerkte sie spitzfindig und aschte ab.

"Kommt auf die Perspektive an." Asche und Staub.

"Auf semantische Spitzfindigkeiten, meinst du. Die stören aber das Erkenntnispotential der Metapher."

Sie ließ die nur halb aufgerauchte Zigarette zu Boden fallen und trat sie aus.

"Da kommt sie."
Die Koryphäe blickte auf einen blickgeschützten Bereich zwischen einigen Gebüschen. Tatsächlich schien sich dort etwas Arkanes abszuspielen, sehr diskret, nur peripher erspürbar.

Kivutar tauchte plötzlich auf, als wäre sie durch eine versteckte Tür getreten. Auch sie war von höheren Kräften durchwirkt. Rasch hatte sie das ungleiche Paar ausgemacht und kam jetzt auf die beiden zu. Sie ging zügig, aber nicht gehetzt und sondierte nebenbei die Umgebung. Es war keine Menschenseele in dem Park zu sehen, außer den drei Magiern.

"Ich werde darüber nachdenken." versprach er. Vielleicht sogar länger als zweiundsiebzig Minuten.

Galen war ziemlich überrascht, dass sie das Rauchen sein gelassen hatte.

Seine Mentorin lächelte er schmal an.

Kivutar erreichte sie und sah die Koryphäe mit ausdruckslosem Gesicht an.

"Guten Tag, Angerona. Was macht dein Herz? Geht es besser?", grüßte die alte Frau mit offensichtlichem Hohn in der Stimme. Kivutar - beziehungsweise Kivutars Körper verzog keine Miene.

"Guten Tag, Phalaena."

Die Koryphäe hob eine Augenbraue.
"Oh, wie ich sehe, hast du deine Hausaufgaben gemacht. Und ein Körper, der nicht deiner ist. Besitzt du einen Profanen Urim?"

Kivutar - Angerona - runzelte die Stirn.
"Du weißt, dass das nicht der Fall ist. Und du wirst jetzt mit deinen Spielchen aufhören, sonst ist dieser Deal vom Tisch."

Die Koryphäe winkte ab."
"Schon gut."
Und leiser fügte sie hinzu.
"Alte Spaßbremse."

Nun wendete sich der Blick der Frau, die meistens seine Mentorin war, Galen zu und bohrte sich förmlich in ihn.
"Du hast diesem Handel aus deinem eigenen, freien Willen zugestimmt?"

Sein Blick wanderte interessiert zwischen den Beiden hin und her.

"Soweit ich das beurteilen kann." entgegnete er Angerona.

Sie nickte langsam.

"Und du bist auch sicher, dass du den Handel so abschließen willst?"

Er lächelte ein schmales Lächeln.

Forderte er nun eine Antwort ihrerseits? Davon würden sie beide profitieren. Aber ihre Aufgabe war es, ihn mit allen Informationen zu versorgen, die er zur Erfüllung seiner Aufgaben benötigte...

"Das bin ich... Ich hoffe die Antwort lohnt sich."

Es zeigte sich keine Regung auf ihrem Gesicht. Sie wendete sich der Koryphäe zu.

"Es sind keine Schläfer in diesem Park, korrekt?"
Die Alte nickte.
"Zufällig hat gerade niemand Interesse, hier herzukommen", bestätigte sie.

Angerona wendete sich wieder Galen zu.
"Was jetzt kommt ist nicht für deine Augen und Ohren bestimmt. Ich bedauere."
Kivutars Körper vollführte knappe, kreisförmige Mudras. Galen spürte die Magie und um ihn herum bildete sich etwas... eine Kuppel aus Spiegeln, die ihn wie ein kleiner Dom umschloss.
Einen Augenblick später bemerkte er, dass es doch keine Spiegel waren... dazu war die Kuppel zu perfekt sphärisch. Und es spiegelte auch nicht wirklich. In jeder Richtung, in die er blickte, sah er sich selbst von hinten. Es war, als sei er in einem Bild-im-Bild-im-Bild-Kunstwerk - Mise en abyme.

Ist vermutlich auch sicherer so...

Galen sah sich seinen Rücken an - was anderes blieb ihm ja auch nicht übrig.

Ob sie die Frage für sich selbst nutzt? Für die Sache? Das kann ich nicht wissen, werde ich vielleicht auch niemals... Wie groß ist der Fehler, den ich gemacht habe?

Er dachte an Angeronas Worte.

'Es war kein all zu großer Fehler, dich aufzunehmen'. Die Wenigsten hätten dieses Opfer für den Orden gebracht, dachte er. Oder denke ich da zu schlecht von ihnen? Denke ich von mir zu gut? Hätte ich Angerona diese Frage verwehren müssen?

Er lächelte.

Ihr Schachzug, Lovecraft einzusperren hat sich am Ende auf jeden Fall für sie ausgezahlt... Wer weiß, ob ich ohne dies das Vertrauen zu ihr aufgebracht hätte?

Es dauerte eine Weile. Dann fiel die Sphäre mit der semi-spiegelnden Oberfläche geräuschlos in sich zusammen und verschwand und Galen konnte wieder den Park und die zwei Erwachten sehen. Die Koryphäe wirkte etwas sauertöpfisch, Angerona/Kivutar trug den Ausdruck einer grimmigen Zufriedenheit.

"Also gut, die Bezahlung ist erledigt", meinte die Koryphäe.

"Zeit, dass du deinen Teil erledigst. Also, ich werde dich jetzt in die Vergangenheit schicken, kurz bevor du dem singenden Schmetterling begegnest. Du wirst aufstehen und gehen und nicht zurückkommen. Verstanden?"

Er sah zwischen den beiden kurz hin und her. Das war defintiv der schlechtere Deal für das Mysterium gewesen. Und alleine dafür hatte es sich schon ein bisschen gelohnt.

Galen nickte.

"Verstanden."

Sie kramte kurz in ihrer Handtasche und förderte ein kleines, zerlesenes Buch mit Ledereinband, einen silbernen Brieföffner sowie ein Taschentuch, in dem einige Zementbrösel eingewickelt waren. Leise summend warf sie die Brösel auf den Boden vor sich, stach mit dem Brieföffner erst in Galens, dann in ihre eigene Richtung und blätterte schließlich zu einer bestimmten Seite in dem kleinen Büchlein.

Die Welt drehte sich um Galen, als der Zauber ihn erfasste. Es war, als würde er rückwärts durch einen Tunnel fallen, an dessen Wänden blitzhaft Bilder auftauchten und wieder verschwanden. Hannah, Lovecraft, Dolor und Fames, die maskierte Angerona, Tapio, Angus - die letzten Tage, Wochen. Er fiel und fiel... und landete unsanft auf einer Bank an einer Bushaltestelle.

Spoiler:

Ihm war schlecht... Kurz schüttelte er sich.

Galen... Phobos? erhob sich, sah nach links und rechts...

Und ging die Straße in die andere Richtung fort. Währenddessen wählte er die Nummer eines Taxis.

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite sah er im Strom der Passanten die Koryphäe stehen, die seelenruhig eine Zigarette rauchte und ihm knapp zunickte.

Ein Taxi kam keine drei Minuten nachdem er sich gemeldet hatte.
"Wohin?", fragte der Fahrer brummig, sobald Phobos hinten Platz genommen hatte.

Er nannte dem Taxifahrer das Hotel, indem er damals residierte.

Auf dem Rücksitz sah er auf sein Handy. Hatte er bereits Kurunta angerufen?

Sein Handy zeigte keinen entsprechenden Anruf.

Also gut Junge... Er ging nicht dran und ich sprach ihm auf das Handy... Was sagte ich ihm seiner Zeit? Ich sagte ihm, dass ich seine Nummer am Vormittag bekommen hatte und das ich mich über seine Institution informieren wolle... Und er könne mich jederzeit zurückrufen.

Er wählte Kuruntas Nummer.

Doch, da war die Nummer! Er hatte sie nur übersehen...

Jetzt musste er nur noch...

Galen dachte nach. Wenn ich morgen früh nicht zu den Adamantpfeilen gehe, dann werde ich nicht Shoris Dorf finden. Werden die Adamantpfeil es dann irgendwann finden? Und Amelius wird mich nicht überfallen... Und ich werde vielleicht nie ein Hüter werden...

Wie lange der Zauber der Koryphäe wohl noch wirken würde und Galen seine ganzen Erinnerungen an die Zukunft behalten würde?

Das Taxi brachte ihn zu seinem Hotel. Der Fahrer nannte den stolzen Preis für die Fahrt.

Galen zahlte dem Taxifahrer den Preis.

Es war ja auch schon recht spät, also ging er zu sich nach oben auf das Zimmer. Und schlafen musste er so oder so, nicht wahr?