Springbreak

Lovecraft schwieg für einige Atemzüge, während sie den sich windenden Waldweg entlangholperten.

"Und wenn du aus irgendwelchen Gründen - ich muss ja inzwischen doch ein wenig an deinen deiner Entscheidungskraft zweifeln - zu dem irrigen Schluss kommst, dass meine These nicht korrekt ist?"

"Ich werde mich nicht irren." erwiderte er entschlossen.

"Das ist keine Antwort auf meine Frage."
Lovecraft warf ihm einen kurzen, prüfenden Seitenblick zu.

"Das kommt auf die Lage an." erwiderte er und entgegnete den Blick einen Moment lang.

Lovecraft schnaubte trocken.

"Du windest dich wie ein Aal. Ich hatte erwartet, dass du manns genug bist, mir die Wahrheit ins Gesicht zu sagen. Du willst sie umbringen."

Er nahm den Blick nicht von der Straße.

Er schwieg einen Moment lang. Töten wollte er niemanden... Es war schrecklich.

"Ich hoffe, du hast Recht." sagte er dann leise.

"Und ich hoffe, du gibst ihr eine ehrliche Chance."

Der Wald hatte sich gelichtet und man konnte in der Entfernung bereits die Hauptstraße sehen, die sich durch das hügelige Umland schlängelte.

"Und dass du deine Entscheidung nicht auf Basis deiner eigenen Vorurteile gegen meine Arbeit triffst."

"Das werde ich." Auch ich bin aus deinem Keller gekommen... Und auch wenn der Blitz nirgendwo zweimal einschlägt...

"Wenn sie nicht zu dir zurück will, werde ich sie nicht zwingen." dachte er das Szenario mit ihm zusammen in dem sie einfach nur Angst hatte... Ganz normale Angst.

Lovecraft seufzte. Die Zufahrt zur Straße kam näher.

"Wenn es das ist... die Arbeit an sich ist wichtiger als die einzelnen Erfolge. Ich wäre dir aber sehr verbunden, wenn sie nicht komplett im Sinne der Hüter indoktriniert wird."

"Ich sprach mit allen Orden, ehe ich diese Entscheidung traf. Ich finde es nur gerecht, wenn sie die selbe Wahl bekommt." erwiderte er.

"Gerecht..."
Er schüttelte mit sardonischem Lächeln den Kopf.

"Dann soll es so sein. Das wird mir den Erfolg nicht schmälern."
Sie bogen auf die Hauptstraße ein, der sie nun ein Stück nach Süden folgten, bevor der Seitenweg zu Lovecrafts Hof in Sicht kam.

"Wie waren die anderen beiden? Wer waren sie?" fragte er Lovecraft. Ist Fluorny vielleicht ein Schüler von... vor deiner Verbannung?

"Agoras hatte Angst vor Menschenmengen... zumindest an der Oberfläche. Die eigentliche Angst saß tiefer, wir haben sie herausgearbeitet. Und Epaine war... mein erster wirklicher Erfolg. Sie war der Beginn der wirklichen Arbeit."

Er lächelte in sich hinein.

"Ironischerweise hat das sogenannte Freie Konzil meine ersten Erfolge erst ermöglicht. Hier draußen, in der Ruhe und Isolation der Verbannung, konnte ich meine Methoden verfeinern und wurde nicht wegen jedem noch so kleinen Missgeschick von diesen engstirnigen Libertinees unter die Lupe genommen."

Was mir eine Lehre sein kann...

"Was meinst du damit? Mit wirklich?"

"Eine gute Frage! Bevor ich damit angefangen habe, durch das Besiegen der Angst das Erwachen herbeizuführen, musste ich erst die Angst selbst erforschen, sie kennenlernen in all ihren vielen Dimensionen. Sonst hätte ich nie hoffen können, ihr Überwinden mit dem Funken der höheren Reiche zu verbinden."

Er klopfte energisch auf das Lenkrad.

"Also habe ich sie studiert. Zuerst wie es vielleicht ein Psychologe tun würde, mit Büchern. Ich habe psychologische Kliniken besucht, Patienten begutachtet, die an Angststörungen litten. Ich habe in den Astralreichen die repräsentativen Goetia der Angst ausfindig gemacht und untersucht. Dann habe ich sogar weitere Arkana studiert, um mit Schattengeistern der Angst in Kontakt zu treten, und sogar die Geister der Toten hinsichtlich ihrer Ängste zu untersuchen. Nur irgendwann stößt man als reiner Beobachter an die Grenzen des Erkennbaren. Ich wusste, ich musste aktiv werden. Experimente wagen, die sonst keiner wagte, um meine Erkenntnisse zu erweitern. Es ist wirklich nicht anders als in der Wissenschaft."
Er lächelte entschuldigend.
"Ethische Bedenken können hinderlich sein, wenn man einen Fortschritt erzielen will. Ich habe Angefangen, in fest definierten Szenarien Leuten aktiv Angst zu machen, auf unterschiedliche Weise. Damals noch nicht unbedingt mit dem Ziel, dass diese Leute erwachen. Aber so konnte ich die Situation kontrollieren und neue Erkenntnisse gewinnen, die durch reine Beobachtung nicht möglich gewesen wären. Ich hatte dann schon begonnen, ein erstes Szenario zu entwerfen, das ein Erwachen herbeiführen sollte - aber dann kamen mir die Kleingeister dazwischen. Meine noch laufenden Experimente wurden mir entzogen, mir wurde ein Schauprozess gemacht und dann hieß es Verbannung."

Im Eifer seiner Rede hätte er beinahe die Abfahrt zu seinem Haus verpasst, erwischte sie aber gerade so doch noch.

"Tja, das Exil hat mich natürlich etwas zurückgeworfen. Meine Unterlagen hatten sie konfisziert, aber ich habe sie zum Glück immer hier."
Er tippte sich an die Stirn.
"Und so konnte ich das erste Szenario, das erste Experiment angehen. Und das zweite. Und so weiter. Ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, dass es keine Fehlschläge gab. Aber dann ist Epaine erwacht! Und später, nach vielen weiteren Experimenten Agoras. Und dann irgendwann du. Und jetzt Hannah, die ich Deima nennen wollte. Sie ist in so kurzem Abstand zu dir erwacht... ich glaube das heißt, dass ich dem Ziel der Arbeit sehr nahe bin. Wer weiß, vielleicht ist meine Methode bald serientauglich, und massenhaftes Erwachen möglich."
Seine Augen glänzten regelrecht.

"Dann werden die Exarchen fallen..."

Er hörte den aufmerksam den Ausführungen Lovecrafts zu. Lauschte dem Weg der Hybris.

Es ist so bedauernswert... Er glaubt wirklich daran... Milliarden Banisher sind der Weg zur Erleuchtung? Und wenn dem so wäre?

"Glaubst du, wir vier ähneln uns?" fragte er ihn. Er war der festen Überzeugung das Erwachen sei individuell. Aber wenn sie sich ähnelten...

Er wirkte kurz nachdenklich.

"Also... ihr hattet natürlich alle eure eigenen Ängste, die es zu überwinden gab. Genauso wie alle Menschen selbst, sind auch ihre Ängste individuell. Aber sie gleichen sich wieder in dem Punkt, dass sie die Menschen an die Lüge binden. Deswegen ist es ja auch der einzige verlässliche Weg, ein Erwachen herbeizuführen, ebendiese Ängste zu überwinden. Konfrontation!"

Hybris ist wie ein Kreis. Jeder Gedanke läuft am Ende wieder auf den gleichen Punkt. Gibt es keine Pausen mehr dazwischen, ist die Spirale abgeschlossen: Es gibt nur noch den einen Gedanken., dachte er analytisch.

"Warst du vor deinem Erwachen eher mutiger, oder ängstlicher als andere Menschen?"

Lovecraft winkte ab.

"Ach, komm mir nicht mit deiner Küchenpsychologie. Es geht hier nicht um mich. Ich bin nur das Werkzeug für die Arbeit. Wahrscheinlich wirst du das sowieso nie verstehen, aber ich bin deine Versuche so langsam leid, das ganze psychologisieren zu wollen. Ich brauche keinen Seelenklempner."

Also von Angst zerfressen. kombinierte er

Nein... Einen Seelenklempner brauchst du vielleicht wirklich nicht mehr... Aber ich will mir sicher sein, alter Zausel. Ein anderes Urteil fällen können...

"Was ist mit anderen Urgefühlen? Hunger, Lust und so weiter. Auch nur Spielarten der Furcht?"

"Wie soll man Hunger überwinden? Und warum sollte man Lust überwinden wollen?"

Er zuckte mit den Schultern, während der Wald um sie herum wieder dichter wurde und der Weg schmaler.

"Beides kann einen doch auch in zirkulären Gedanken festhalten. Die Wahrheit ist doch, das wir gar nichts essen müssen. Zumindest ist dies eine Wahrheit, die ein Berserker in die gefallene Welt bringen kann." entgegnete er. Ignoranz gegenüber anderen Weltbildern...

"Und siehst du irgendwo massenhafte Erwachen, weil Leute etwas essen? Hunger ist immer zeitweise zu überwinden. Dabei ist keinerlei Finesse oder Komplexität... anders als bei Ängsten, die sehr komplex sein können."

Er steuerte in eine Kurve und Galen wurde sanft von den Fliehkräften nach rechts gedrückt.

"Menschen springen auch zeitweise über ihren Schatten und überwinden ihre Ängste." argumentierte er.

"Das mag sein, aber eben nicht gezielt, dezidiert und ganzheitlich in einer kontrollierten Umgebung."

Er warf ihm einen kurzen Blick zu.

"Denn letztlich vermeiden Menschen alles, was ihnen Schmerzen verursacht. Auch wenn sie über ihren Schatten springen, heißt dass nicht, dass eine komplette Überwindung, oder besser gesagt, eine Meisterung der Ängste vollzogen wurde."