Der rote Schleier (Odysseus)

Sie wirkt ehrlich panisch, aber... Das klingt nicht nach einer klugen Idee...

"Nein!" erwiderte er bestimmt. "Es muss einen anderen Weg geben."

Er fasste sie fest in den Blick und machte sich auf alles gefasst - versuchte es zumindest.

Sie lächelte traurig und schüttelte den Kopf.

"Es gibt keinen anderen Weg. Vertraue mir. Wer weiß, wie weitreichend dieser Einfall des Abgrunds in die gefallene Welt schon ist. Wir müssen mehr wissen."

Sie schaute Odysseus fest an.

"Du wirst es rufen. Sieh es als ein letztes Opfer. Du wirst es rufen und dann alles tun, um es dazu zu bringen, uns alles zu verraten... wie viele noch beteiligt sind, woher dieses Buch kommt alles... und wenn du dem Abgrund dafür etwas opfern musst, das ist das Risiko wert."

"Gib mir das Buch." verlangte er von ihr und streckte den Arm aus. Nicht, um die Beschwörung abzuhalten, sondern um Kivutar es abzunehmen.

'Manche Dinge bleiben besser verborgen.' Das waren ihre Worte... Gab es überhaupt einen Unterschied? In der Beschwörung? Eine Möglichkeit, es aus dieser Welt zu rufen? überlegte er. Sie war vor mir hier... Sie könnte das Buch als Test hier hinterlassen haben. 'Vertraue mir...' Eigenständiges Denken... Und selbst wenn es kein Test wäre... Einen Gulmoth rufen? Alleine? Hier?

Sie trat einen Schritt beiseite und machte eine auffordernde Geste. Das Buch lag da auf dem Tisch, bereit, von ihm an sich genommen zu werden.

Nein! Es ist falsch. Was Kivutar hier tut, ist falsch! Und auch, wenn ich nicht weiß, ob dies ein Test ist oder nicht - Dieses Risiko ist es wert!

Er trat auf das Buch zu, griff danach, wollte es zerstören, zu Asche und Staub machen, doch Kivutar war noch immer da und würde den Zauber beenden, würde er ihn wirken...

Odysseus sah auf das Buch - und dann unvermittelt in Kivutars Augen.

Die Geste. Sie kannte das Yantra. Sie wusste, was auf sie zukommen würde. Er griff nach ihrem Geist. Hämmerte mit dem Meißel an ihren Schädel, machte einen Golem aus ihr. Ein benommenes, rythmisches Schlagen.

Wenn du wirklich willst, dass ich einen Golmoth beschwöre, dann gehe sofort zu Meister Nemglan und sage ihm das doch, lullte er sie ein.

Es fühlte sich gut an... Diese Macht. Er konnte unmöglich falsch liegen.

Kivutar hob abwehrend eine Hand. Sein Meißel zersplitterte, seine Macht wurde ihm aus den Händen gerissen. Die psychischen Mächte verflogen und vergingen.

"Keine Magie mehr."
Kivutars Stimme hatte einen deutlich hörbaren drohenden Unterton bekommen.

"Was wolltest du gerade tun?"

Er legte die Stirn zornig in Falten...

Das Überraschungsmoment hast du gerade verloren... Und nun?

Dann schüttelte er langsam den Kopf.

Warum greift sie dich nicht an? Es ist ein Test?

"Ich hielt es für besser, wenn jemand anders hiervon erfährt..." Er sah an ihr vorbei, Sh'aoc an... Sprach zu ihm. Nur für den Fall, dass die Situation noch nicht entschärft war.

"Tu das nicht noch einmal. Du würdest es bereuen."
Wieder dieser drohende Unterton.

"Ich befehle dir, diese Beschwörung durchzuführen. Es geht hier um nichts Geringeres als deine Loyalität dem Orden gegenüber."

Er nickte in Sh'aocs Richtung... Mit ihm zusammen hatte er vielleicht... eine Chance gegen sie! Er hatte eben gemordet, er würde es wieder tun können!

Mit dem Nicken zusammen stieß er seine Hand nach vorne, in ihre Richtung... In seinem Kopf sah er die Obdachlosen, die er im Winter halb erfroren, aufgezehrt von der Straße aufgelesen hatte. Den Gefrierbrand an  ihren Leibern. Kälte breitete sich von ihr aus, sein Nimbus wehte auf und erleuchtete den Raum gespenstisch.

Wenn nicht ihr Wille, dann halt das Fleisch!

Wieder hob sie die Hand, wieder spürte Odysseus, wie ihm sein Imago zu entgleiten drohte. Doch diesmal nicht! Mit aller Macht gelang es ihm, den Widerstand zu durchbrechen. Kivutars Augen weiteten sich etwas.

Sie keuchte überrascht, als sich an ihrem Körper dunkle Flecken bildeten, wo Gefrierbrand und Fäulnis gediehen.

"Stop... genug, es war nur ein Test!", rief sie, bemüht ihr Entsetzen zu unterdrücken. Davon ließ sich Sh'aoc allerdings nicht lumpen. Odysseus sah, wie sich die Resonanz des Goetia über Kivutar entleerte. Sie riss den Kopf herum und runzelte die Stirn.

"Was..."
Aber viel mehr passierte nicht.

"Genug!" rief er Sh'aoc entgegen und sah Kivutar fest an.

"Beweise es!" forderte er streng.

Sie stützte sich mit der Hand am Tisch ab.

"Das Ritual ist völlig nutzlos. Man kann damit nichts heraufbeschwören. Das Buch ist eine Fälschung, genau für diesen Zweck erstellt."

Mit leicht verzogenem Gesicht betastete sie ihre Wange, wo sich ein besonders hässlicher Fleck gebildet hatte, und die Haut sich schälte.

"Das war der schwarze Schleier. Ein Test, um zu sehen, ob du die Prinzipien des Ordens vor fehlgeleitete Ideen wie bedingungslose Loyalität und Befehlsgehorsam stellst. Ob du etwas ablehnst, das offiziell den exoterischen Lehren widerspricht. Und ich würde sagen, das hast du. Eher zu viel als zu wenig..."

Er nickte... Dies hatte er sich gedacht. Aber es war, wie das Gefangenendilemma. nur weil man wusste, wie es auszugehen hatte, konnte man noch lange nicht aus ihm ausbrechen...

"Lass mich sehen, was ich angerichtet habe..." antwortete er ihr und trat näher an sie heran.

"Nein", lehnte sie mit kalter Stimme ab.

"Tapio wird sich darum kümmern. Du kannst dich nützlich machen, indem du den Krempel hier verschwinden lässt."
Sie schaute demonstrativ zu den Werkzeugen und anderen Reagenzien.

"Das ist denke ich ein Befehl, der sich ohne weiteres mit der Lehre des Ordens vereinbaren lässt."

Soll sie sich nicht so anstellen..., dachte er ohne einen Funken Mitgefühl... Die Folgen seines Höhenfluges.

Dann wendete er sich wieder an die Arbeit und begann, die Utensilien einzupacken.

Kivutar ging langsam ins Wohnzimmer und setzte sich da auf das Sofa, um sich ein wenig auszuruhen. Sh'aoc hing für seine Verhältnisse unauffällig nahe der Tür des Ritualraums herum.

Odysseus packte in der Zwischenzeit die verschiedenen Dinge in die Taschen. Es ergab sich eine prall gefüllte Reisetasche, ein voller Koffer und eine fast volle weitere Reisetasche. Jetzt war alles weggeräumt. Lediglich die Liege blieb als möglicherweise verfänglicher Gegenstand zurück, den man nicht ohne weiteres einpacken konnte.

Während Odysseus die Utensilien verstaute, wurde er langsam klarer...

Ihm wurde langsam bewusst, dass er einen Doppelmord begannen hatte. Und anstatt sich danach dieser Tat zu konfrontieren, musste er weiter funktionieren. Diesen Moment größter Schwäche, nutze Kivutar, um seine Entschlossenheit zu testen.

Er hätte einfach 'nein' sagen können, weggehen, das Buch zerstören. Aber er hatte es nicht getan... Und an die meisten Dinge davon nicht einmal denken können. Ich wollte Recht haben. Einen Moment lang war ich mir so sicher...

Sein Blick driftete ins Wohnzimmer, wo er Kivutars Hinterkopf auf dem Sofa erblicken konnte.

Es war so leicht gewesen...

Langsam wurde ihm klar, dass er eben einfach nur Macht besitzen wollte. Macht über Sh'aoc, Macht über den Tod, Macht über seine Entscheidungen. Und er war bereit alles dafür zu geben... Er war wie Fames und Dolor gewesen. Es war, als hätten ihre Geister ihn besessen, als wäre ihre Energie durch ihn gefahren. Aber irgendwie wusste er, dass es so nicht war. Dass er diese Entscheidungen getroffen hatte. Dass dies etwas war, dass allen Magiern passieren könne.

Womöglich hatte Dolor recht gehabt. Er war nicht besser - nur mächtiger. Und das bedeutete, dass er wieder anfangen müsste sich diesen Fragen zu stellen.

Wie hatte er überhaupt denken können, Kivutar würde so etwas ernsthaft in Betracht ziehen? Irgendwo in seinem Hinterkopf hatte er geahnt, es wäre ein Test. Er hatte sogar rekonstruiert, wie es hätte ablaufen müssen - und er hatte ihr panisches Schauspiel einfach geschluckt, ohne überhaupt auf ihre Gefühle einzugehen.

Das Schlimmste war aber, dass er sich direkt nach der Tat nicht einmal schlecht gefühlt hatte... Posttraumatisches Stresssyndrom oder etwas ähnliches..., diagnostizierte er sich.

Die Reißverschlüsse zurrten, als er sie zuzog.

Ich war in einem Strudel... Und habe mich gefangen. Dolor und Fames wurden in die Tiefe gerissen. Ich muss mich dem stellen. Es verarbeiten. Und nicht aus falscher Rechtschaffenheit übereilt handeln.

Er schob den Koffer in das Wohnzimmer - dort wo es säuerlich nach Erbrochenem roch...

Richard ging neben Dolor auf die Knie. Auch er musste durchsucht werden.

Kivutar würde in seinem Gesicht Schuld erkennen können. Seine Augen waren rot geädert, als hätte er geweint. Aber er selbst hatte sich nicht daran erinnern können, ob er das getan hatte.

Er sah an Kivutar vorbei zu Sh'aoc. Du bist nicht umsonst meine größte Angst... Warst es...

Er fand ein Handy in Dolors Tasche, seinen Geldbeutel, Schlüssel. Am Schlüsselanhänger hing ein kleines, ausgebleichtes Knöchelchen. In der Gesäßtasche fand er eine Münze aus Blei, seiner eigenen gar nicht so unähnlich.

Kivutar saß noch immer auf dem Sofa und tippte langsam auf ihrem Telefon herum. Ein neuer Zauber umgab sie... er musste dazugekommen sein, als er im Ritualzimmer aufgeräumt hatte. Bei näherem Hinsehen spürte er den Verfall des Todesarkanum.

Er nahm das Knöchelchen und die Münze an sich - drehte die Münze etwas nachdenklich in der Hand...

Uns trennt nicht all zu viel voneinander... Dich und mich?

Die Handys machten in der Tat Probleme. Er prüfte die Kontakte. Gab es welche die verdächtig nach Magiern klangen?

Er konnte die Kontakte nicht prüfen, da das Display durch eine Passworteingabe gesperrt war.

Er sah zu Kivutar auf.

"Ihre Telefone. Was macht man mit ihnen?" fragte er sie. Seine Stimme klang taub.

Sie beugte sich vor und griff nach ihrem Rucksack - von da zog sie Fames' Telefon hervor und legte es auf den Tisch.

"Wir lassen sie hier. Auf Fames' Gerät war nichts verdächtiges. Wir können also davon ausgehen, dass es bei Dolor nicht anders ist."

Er schob das Handy wieder zurück und erhob sich. Nickte kurz.

Dann ging er in den Flur um auch Fames zu durchsuchen - und erblickte ihren toten Körper zum ersten Mal aus eigenen Augen. Sein Werk. Seine Verantwortung.

Sie saß zusammengesunken an die Wand gegenüber der Haustür gelehnt, die verdrehten Augen ins Leere gerichtet. Neben ihr lag die Spritze.
Allerdings trug sie ansonsten nichts bei sich. Ihre persönlichen Gegenstände wie Schlüssel und dergleichen waren in einer Handtasche im Wohnzimmer.

Sie sieht so viel friedlicher aus... Die Grausamkeit seines Todes lag also an ihrem Zauber... Weil ich nicht mächtig genug war, auch seinen Willen zu brechen... Mein Unvermögen. Meine Verantwortung...

Er machte auf dem Absatz kehrt und durchsuchte dann ihre Handtasche.