[Präludium] Ein Abend im Sommer (Markus)

Er sah auf den Bildschirm.
Was soll das denn bitte?

"Hm..."
Falle?

"Hm..."
Ne. Kein Plan was das ist. Aber ok.

Der Bettler begann zu tippen. Zwei-Finger-Suchsystem.

Code:

Wer sind Sie?
Markus|......................

Mehr?

Markus entschied sich dagegen. und drückte Enter.

Er war Markus. Niemand sonst.

Er hörte ein metallisches Rollen. Etwas kleines rollte über den Boden unter dem Schreibtisch und stieß gegen seinen Fuß. Als er sich bückte, und es aufhob, erkannte er seinen Turm.

Er war nicht mehr aus Holz, sondern in dunkles Metall transformiert worden. Eine Sigille war in die Basis der Schachfigur graviert. Er wusste instinktiv, was diese Sigille bedeutete.

Markus.


Schlagartig wachte er auf, lag in dem Bett aus Teer, in der schwarzen Grube - doch die Masse hielt in nicht fest.
"Nicht möglich...nicht möglich...", hörte er Hiers samtige Stimme - doch sie verklang.

Wieder wachte er auf... konnte man doppelt erwachen?
Er lag auf einer schmuddeligen Matratze. Um ihn rum war es recht dunkel. Es müffelte - von links kam Schnarchen, von rechts hustete jemand. Alte Bettlaken hingen von einem Metallgestänge um ihn her. War er in einem Nachtlager für Obdachlose gelandet?

Markus sprang auf und saß kerzengerade auf der Matratze.

Turm
Hektisch fuhr er sich durch alle Taschen seiner Kleidung. Suchte.

Falle
Ruckartig bewegte er seinen Kopf an die Decke. Schwarzes Zeug fand er dort nicht.
Leichte entspannung breitete sich aus.
Weiterhin suchend nach dem Turm.

Dann
Calista warum-sollte-ich-weg-sein Estriberón
Klar. Du bist vielleicht nicht weg, aber ich wie es aussieht.

Er fand den Turm nicht mehr. Er war in keiner Tasche, und auch nicht bei seinen Sachen, die neben der Matratze im Dunkeln lagen.

Langsam klopfte er ein letztes mal seine Hose ab.

Irgendwie hatte er das Gefühl ihn nie wieder zu finden. Zumindest nicht hier draußen.

Gut...
...
Warum genau habe ich nicht das Gefühl bekloppt zu sein?

"Gut. Plan mach'n. Hilft sons' alles nix." murmelte er während er aufstand.
"Erst'ns, wo bin ich hier. Zweit'ns is' diese Calista echt? War immerhin die einz'ge Person mit'm Nam'n, die ich vorher nicht kannte..."
Drittens. Was ist passiert?

Er sah sich genauer um in dem Raum.
Also dann wolln wir mal, alter Mann Stocken in Gedanken.

Ruckartig rutschte sein Blick auf seine Hände. Waren diese alt? Oder jung?

"Schnauze!", rief jemand heiser von irgendwo außerhalb seiner kleinen Kabine.
Seine Hände sahen alt aus.

Sicher nicht mehr da oben drin. Zu wenig ignoriert.

Markus sah sich nach jemandem um, der kein Bettler war.
Sollte er niemanden solches finden würde er wohl jemand anderen fragen müssen wo er hier war.

Als er aus seiner Kabine herausspähte, sah er noch mehr Kabinen, und auch viele Obdachlose, die einfach auf Matten auf dem Boden lagen. Sie befanden sich in einem Kirchenschiff. Eine dieser Kirchen, die zu besonderen Aktionen Menschen ohne Heim für eine Nacht aufnahmen.

Er konnte einen Sicherheitsmann ausmachen, der nahe dem Kirchenportal Wache stand. Ein gedimmtes Licht erleuchtete den Bereich um den Ausgang.

Langsam ging er auf eben jenen zu.
Als er auf Gesprächsentfernung heran war begann er zu sprechen.

"Hey Großer. Lange Nacht, wa'? Oder wie spät is'n jetz'?"

Er schaute auf seine Uhr und leuchtete Markus mit einer Taschenlampe ins Gesicht.

"Es ist gleich drei Uhr nachts. Legen Sie sich wieder hin, oder ich muss Sie bitten, zu gehen."

"Hey, hey. Ma' nich' so ruppig hier. Is' doch nur 'ne nette Frage. Bin doch nich' ma' laut."
bitten zu gehen? Das klingt... Freundlich? ... Herrisch? ...

"Wo sin' wir denn hier? Hatt' 'n komisch'n Traum. Grad verwirrt. Alter Mann un' so..."

"Es gibt Regeln hier, Sie stören die Nachtruhe."
Er wirkte ungeduldig.

"Sie sind in der Holy Innocents Kirche. Legen Sie sich jetzt wieder hin, oder Sie müssen leider gehen."

"Hatt' gedacht, dass'e dich freu'n wirst, über Gesellschaft. Nachtwache allein' is' langweilig."
Aber Okay. Ich muss eh nachdenken... Und schlafen?
Wenn es echt drei ist... bis sieben kann ich ja wohl zumindest ausruhen... Nutzen, dass ich hier bin.
Wie auch immer ich hier her gekommen bin...

Markus drehte sich um und ging zu seiner Kabine zurück.
Neue mentale Notiz. Rausfinden was das alles zu bedeuten hat.

Er fand seine Kabine wieder - zwischen Husten und Schnarchen, schwer zu verfehlen.

Markus setzte sich auf die Matratze und nahm die Position des Denkers ein.
Wie bin ich hier her gekommen?
Existiert Calista?
Wie komme ich zurück, dorthin?
Will ich dorthin zurück?

Dann tiefgründiger.
Es war alles... so real...
Klar. Es gibt träume die echt wirken. Aber das... war... mehr...
Und selbts wenn es ein Traum war...
Gehen wir das mal so an. Es war ein Traum...
Francis war ein Teil den ich noch nicht verarbeitet hatte.
Dann bin ich tiefer in mein Selbst gelaufen
Verzweiflung hat Gestalt angenommen. Hier
Alles folgte Regeln. Metaphern...
Dann...
Verarbeiten der alten Geschichte. DER Geschichte.
Noch verzweifelter. Klar.
Aber...
Regeln waren... Falsch...
Was ist mit dem Briefbeschwerer passiert?
Das Ding wirkte als wäre es teleportiert worden...
Und dann. Name. Turm.
Nun ich hier...

Mehr mental Erschöpft als körperlich legte er sich zurück und schloss die Augen.

Er schlief rasch ein, Träumte von den Dingen, die er erlebt hatte, aber nichts davon war so real, wie als er da gewesen war, an jenem Ort aus dunklem Eisen und süßer Sünde.

Viel zu früh, er hatte das Gefühl, er hatte die Augen gerade erst zugemacht, als er von lautem Rufen geweckt wurde.

"Alle aufstehen. Bitte alle aufstehen, es ist 8. Uhr. Aufstehen, bitte alle aufstehen..."

Markus stand auf und streckte seine alten Knochen.
Es knackte öfter als sonst.
"Nngh..." stöhnte er auf und begann seine Habseligkeiten zusammen zu kramen.

Danach ging er zum Ausgang und fragte den dortigen, inzwischen neuen, Sicherheitsmann

"He-da. Hab ma' ne Frage. Ihr habt ja oft so 'ne Bücher, wo ihr reinschreibt wer wann gekomm'n is'. Ne?"
Dies machten sie tatsächlich. Nur wegen der Versicherung, falls einer was kaputt machen sollte. Und ähnlichen Dingen. Falls einer sterben sollte Beispielsweise. Vor allem welche, die nicht von selbst ankommen, sondern gebracht werden, sind dort vermerkt.

"Kann ich da ma' reinseh'n? Will schau'n ob 'n Freund von mir hier drin war. Hab den nich' geseh'n. Mach mir fast sorg'n..."
Er wollte eigentlich nachsehen wann er selbst hergekommen war. Und in welchem Zustand.
Aber es war sicher besser nicht zuzugeben, dass er sich nicht daran erinnern konnte.

Der neue Sicherheitsmann war nicht wesentlich freundlicher als sein Vorgänger. Er schüttelte den Kopf.

"Tut mir leid, das geht nicht. Datenschutz und so, Sie verstehen."

"Ne, ehrlich gesagt versteh' ich nich'. Is' ja nich', als würd'n wir hier über wicht'ge Leute red'n. Is' doch auch nur Bettler wie ich. Verdammt!"
Ich will das sehen!

"Das sind die Regeln", erinnerte er ihn herablassend - und klang fast genauso wie sein Vorgänger. An die Regeln erinnerte man hier wohl gerne.

"Und bitte nicht in dem Ton!"

Kirche. Mist.

"Jaja... Ich versteh' scho'."
Markus ging an ihm vorbei und raus auf die Straße.

Raus... Auf das Schachbrett?

Die Straße sah aus, wie immer. Die ersten anderen Obdachlosen, die in der Kirche übernachtet hatten, schlurften den Bürgersteig entlang. Vom Schachbrett nichts zu sehen.

Spoiler:

Als Markus die Augen ein wenig zusammenkniff, teils wegen der aufgehenden Sonne die ihm, gespiegelt von den Fenstern des gegenüberliegenden Gebäudes, ins Gesicht schien, teils weil er noch nicht sicher war, ob das Schachbrett wirklich nicht da war, da sah er es.

Die Straße vor der Kirche. Einer der Bäume, der eingesperrt in einem kleinen Fleckchen Erde vor sich hinwuchs. Die Kreuzung im Süden.

Nicht so offensichtlich wie am Abend zuvor, aber dennoch sichtbar. Felder.

Ein paar Minuten stand Markus einfach da. Das Licht der aufgehenden Sonne wärmte ihn, während er offenen Mundes die einzelnen Felder betrachtete.

"'s is' echt..." murmelte der alte Mann. "'s Brett is' echt..."

War die Frau in seinem Kopf dann auch echt?
Nur ein Weg das herauszufinden entschied Markus.

Zunächst ging er aber an einen ruhigeren Ort.
Castro&Duncan Open Space, unten bei der 27th Street könnte gerade schön sein. Gute Aussicht über Frisco. Und das Brett.

Er sah die Felder, die Begrenzungen, die sich durch die komplette Stadt zogen... aber etwas war anders als gestern. Diese Felder ermöglichten ihm, Entfernungen auf das genaueste zu erkennen. Von dem einen Baum am Rande des Kirchenvorplatzes zum nächsten waren es 12,42 Meter. Völlig ersichtlich. Die zwei Jogger waren exakt 2,04 Meter voneinander entfernt. Obgleich er diese Distanzen mühelos mit den Augen abmessen konnte, kamen sie ihm doch irgendwie illusorisch vor - unecht. Teilweise flimmerte es zwischen den Feldern, über einer Straße bei heißem Wetter. War man sich wirklich nah, nur weil man zwei Meter voneinander entfernt war? Waren diese Jogger sich wirklich näher, als eine liebende Mutter und ihr Kind, die jeweils an anderen Enden der Welt waren?

Auch die Figuren - oder Menschen, besser gesagt, hatten etwas anderes an sich. Hauchdünne, fast durchsichtige Auren, die sich um die Körper wanden - bei den Joggern sah er, dass eine der Auren deutlich verkrampfter war - intuitiv spürte Markus, dass dieser Jogger sich mental mehr anstrengen musste als der andere. Nach kürzester Zeit taten ihm die Augen weh, und die Felder, die illusorischen Distanzen, die Auren, alles verschwand wieder.

Er hatte gerade erst den Kirchenvorplatz verlassen und könnte sich nun weiter auf den Weg zu seinem Aussichtspunkt machen.

Markus rieb sich die Augen.

Auren...
Echte unechte Entfernungen...

Er lief zu einem der beiden Bäume, deren Entfernung er gerade gemessen hatte und begann anhand seiner Fußlänge diese Entfernung nach zu prüfen.

Etwa 40 mal passte seinen Fuß zwischen die Bäume. 12,42 Meter konnte also stimmen.

Kann ich das jetzt immer? Oder habe ich nur eine begrenzte anzahl an verwendungen dieser... Superkraft? Markus musste lachen. Er ein Superheld?
Konnte ich das vielleicht schon immer?
Pause.
Konnte jeder das?

In diesem Moment war er glücklich dass er als arbeitsloser Bettler von allem zu wenig hatte. Zu wenig von allem außer der Zeit nachzudenken.

Er ging in Richtung der Ecke Castro&Duncan. Dort oben, so nahm er sich vor, würde er seine Augen wieder anstrengen. Doch bis dahin erst einmal schonen.